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Mondmutter

Eine junge Frau sitzt im Mondlicht zwischen zwei Birken und hält eine Schale mit leuchtendem Wasser, in dem eine Feder schwebt. Ihr gegenüber erscheint eine durchscheinende, weisshaarige Gestalt, die Mondmutter, in lichtblauem Schimmer. Der Vollmond scheint gross und klar hinter ihnen. Die Szene wirkt still, magisch und voller Verbindung zwischen den Welten.
Sarah und Mondmutter

Text: Luna M. Sage, Bilder: DallE, Genre: Visionäre Fiktion

In einer abgelegenen Waldhütte trifft Sarah auf die Mondmutter, eine geheimnisvolle Hüterin, die sie auf eine tiefere Spur ihres Lebens führt. Zwischen Schale, Feder, Salz und einem schwarzen Stein öffnet sich ein Raum, in dem sie erkennt, wer sie wirklich ist. Die Entscheidung, die sie trifft, verändert nicht nur sie selbst, sondern auch die Welt um sie herum.

Viel Spass beim Lesen und wenn die Geschichte gefällt, bitte ein ❤️ geben. Danke.



Die Hütte

Sarah hatte nichts erwartet, als sie losfuhr. Kein Wunder, keine Erlösung, keine Antwort. Nur eines: Stille. Sie hatte niemandem Bescheid gesagt. Kein Abschiedsgruss, kein „Ich brauche eine Pause“. Kein Plan und kein Ziel im Kopf. Ihr Körper war sehr erschöpft, ihr Kopf voller Nebel, ihr Herz wirkte leer und kraftlos, als hätte es den Rhythmus verloren und beschlossen, erst wieder lebendig zu schlagen, wenn es einen Grund dafür gab.

Die Hütte stand am Rand eines Waldes, der nicht auf Karten erschien. Kein Empfang. Kein Netz. Keine Nachbarn. Nur Bäume. Felsen. Nebel und eine Stille, die nicht leer war, sondern wach.


Am ersten Tag schlief sie stundenlang. Wenn sie wach war, sass sie mit leerem Blick auf einem Stuhl, trank Wasser und ass Butterbrot mit Belag. Alles war dumpf, als läge eine dicke Decke zwischen ihr und der Welt.

Am zweiten Tag begann sie zu hören. Geräusche, die in der Stadt nie durchdrangen. Der Ruf eines Käuzchens. Das Aufplatzen von Fichtenharz in der Sonne. Der Wind, der wie ein Atemzug durch die Wipfel strich und das Rauschen der Blätter, wenn der Wind leicht durch die Bäume wehte.

Der dritte Tag war anders. Die Stille war viel dichter geworden und Sarah spürte Blicke. Nicht bedrohlich. Eher beobachtend. Sie fühlte, dass jemand anwesend ist und überraschenderweise empfand sie dieses Gefühl nicht als bedrohlich.

Sie sass draussen auf dem moosüberzogenen Stein vor der Hütte, als es geschah. Kein Geräusch, das man einordnen konnte. Kein Licht, kein Bild, das man beschreiben konnte. Nur ein Knacken. Sehr leise und ihr Blick fiel auf das Fenster. Die Scheibe war noch trüb vom Morgentau, doch sie spiegelte genug, um mehr zu zeigen als nur ihr eigenes Gesicht.

Und da war sie. Nicht Sarah. Sondern jemand anderes.

Eine Frau. Weisses, langes Haar, das sich nicht bewegte, obwohl Wind durch die Äste ging. Haut wie feiner Nebel. Fast durchsichtig, als bestünde sie aus Licht. Ihre Augen waren wach. Still. Nicht traurig auch nicht fordernd, sondern wissend.

Sarahs Körper spannte sich. Sie drehte sich um, doch hinter ihr war nichts. Nur Wald. Nur Moos. Nur ihr eigener Atem, der plötzlich zu laut schien.

Langsam ging sie sich zurück ins Haus und zum Fenster. Die Frau war noch da. Unverändert. Ruhig. Wie jemand, der nicht überrascht ist, dich zu sehen.

Und dann war da eine Stimme. Sie kam nicht über das Ohr. Sie war einfach da. Nicht als Laut. Sondern als Erinnerung.

„Du kommst spät. Aber du bist gekommen. Ich bin Mondmutter. Hüterin aus einer vergessenen Zeit, in der Frauen noch wussten, wer sie waren". Ihr Blick ging durch Sarah hindurch, ohne sie zu durchbohren. Sarah spürte, ohne es zu verstehen: Diese Gestalt kannte sie. Nicht aus diesem Leben. Aber aus einem Raum, der noch immer in ihr lebte.


Das Licht

Sarah stand noch immer da, den Blick auf das Fenster gerichtet, als wäre die Scheibe zu einem Portal geworden. Die Mondin hatte sich nicht bewegt. Und doch war da etwas in ihr, das sich veränderte. Nicht sichtbar, sondern spürbar. Wie ein Sog. Wie ein innerer Ruf, der sich nicht mit dem Verstand fassen liess.

Die Luft war kühl. Der Himmel klar und der Wald ringsum schien den Atem anzuhalten. Sarah öffnete die Tür der Hütte. Langsam. Als wolle sie die Grenze zwischen dem Bekannten und dem, was nun kam, mit Respekt überschreiten. Sie trat hinaus. Der Boden unter ihren nackten Füssen war kalt vom Tau der Nacht. Doch es störte sie nicht. Jeder Schritt schien sie tiefer zu verbinden.


Der Wald war da. Kein Rascheln. Kein Flattern. Kein Laut. Nur Präsenz.

Dann sah sie es: Ein Licht. Nicht am Himmel. Nicht am Boden. Auch nicht zwischen den Bäumen. Es war einfach da. Nicht grell. Nicht flackernd. Bläulich. Leise. Und dennoch unübersehbar. Es bewegte sich nicht. Und doch fühlte sie, dass es lebendig war.

Sarah trat vorsichtig näher. Jeder Schritt war eine Entscheidung. Kein Weg zeichnete sich ab. Keine Richtung. Nur das Licht. Und das Ziehen. Sie spürte es unter der Haut. Nicht wie ein Schmerz. Sondern wie eine Erinnerung, die beginnt, sich zu regen.

Sie ging tiefer in den Wald hinein. Ihre Füsse fanden ihren Pfad, obwohl keiner zu sehen war. Sie streifte Äste, die sich wie tastende Hände neigten. Der Nebel hatte sich gelichtet. Alles war offen.....

Und dann war sie da; Zwischen zwei alten Birken, deren Stämme wie silberne Wächter wirkten, sass sie, die Mondin, Mondmutter!

Diesmal war Mondmutter ganz zu sehen. Nicht als Spiegelbild. Nicht als Erscheinung, sondern als Gegenwart. Ihre Gestalt wirkte durchscheinend und doch voller Gewicht. Ihre Kleidung war nicht zu greifen, wie aus Rauch, Licht und Zeit zugleich gewebt.

Sie sass auf einem flachen Stein. Die Hände ruhten in ihrem Schoss. Ihre Augen waren auf Sarah gerichtet. Offen und unendlich still.

Sarah blieb stehen. Ihre Kehle war trocken, doch ihre Seele vibrierte. Die Stimme kam wieder. Direkt in sie hinein.

„Setz dich. Du erinnerst dich gleich.“

Sarah gehorchte. Nicht aus Zwang. Sondern weil es keine andere Möglichkeit gab.

Der Stein unter ihr war kühl. Die Erde trug sie. Die Mondin reichte ihr eine Schale. Dunkel. Schwer. In ihr: klares Wasser und eine Feder.

Sie trieb auf der Oberfläche. Langsam. Kreisend. Wie ein Uhrzeiger, der nicht die Zeit, sondern das Vergessen misst.

„Trink“, sagte die Stimme sanft aber befehlend.

„Und du wirst bald wieder wissen, was du nie ganz vergessen hast.“

Sarah hob die Schale. Ihre Hände zitterten leicht. Sie setzte sie an die Lippen.

Der erste Schluck war kühl. Der zweite brannte. Der dritte öffnete etwas in ihr, das lange verschlossen war. Sie fiel. Nicht mit dem Körper. Sondern nach innen. Sie stürzte durch Schichten. Bilder. Gefühle. Orte. Sie sah Frauen, die sie nie gesehen hatte und doch kannte. Ihre Körper bemalt mit Zeichen, ihre Stimmen trugen Melodien ohne Worte. Ein Kreis. Ein Rhythmus. Eine Kraft, die durch sie floss. In der Mitte des Kreises: ein Ei. Dunkel. Glühend und lebendig.


Sie selbst stand dort. Nicht als Beobachterin. Sondern als Teil. Als Trägerin. Als eine, die etwas hütete, das älter war als jede Geschichte. Dann die Stimme der Mondin. Sanft, klar, unaufhaltsam. „Du hast getragen, und du hast es vergessen. Doch das Wissen hat dich nicht verlassen.“

Tränen liefen über Sarahs Wangen. Nicht aus Trauer, sondern aus Wiedererkennen.

Wie ein Lied, das man als Kind gesungen hat und das plötzlich wieder erklingt.

„Wer bin ich?“, flüsterte sie.

„Liunara“, kam die Antwort.

„Das ist dein Seelenname. Du bist Hüterin. Keine Auserwählte aber eine, die sich einmal entschieden hat.“

„Wozu?“, fragte Sarah leise.


Mondmutter hob langsam die Hand. Keine Geste, die nach Macht aussah. Eher wie ein stilles Zeichen an etwas Unsichtbares. In Sarahs Händen begann die Schale zu vibrieren. Die Feder bewegte sich, drehte sich wie von selbst. Das Wasser kräuselte sich, obwohl kein Wind ging. Dann sprach Mondmutter. „Es kehrt zurück. Die Leere. Diese alte Kraft, die wir einst gebannt haben. Nicht mit Waffen, sondern mit Erinnerungen, mit Verbindung und mit Licht.

Jetzt breitet sie sich wieder aus und frisst sich durch den Alltag. Durch Beziehungen und durch Körper. Ein Hunger, der nicht mehr gestillt wird.

Die Welt hat in ihrer Oberflächlichkeit vergessen, wer sie ist, aber sie spürt, dass etwas fehlt.“

Sarahs Inneres weitete sich. Vor ihrem inneren Auge flackerten Bilder auf, lebendig, schmerzhaft echt: Sie sah Städte. Menschen, die einander nicht mehr ansahen und auch nicht mehr den Kopf zum Grusse nickten. Gesichter, die müde wirkten vom Funktionieren. Kinder, die zuhause vor flimmernden Bildschirmen sassen, während draussen der Wind die Bäume zog und die Sonne die Natur beschien.

Frauen, die künstlich lächelten und sich ohne Tiefe präsentierten. Ihr Innerstes war längst verstummt. Ihre Körper waren wie eine Maschine, die funktionieren mussten. In jeder Hinsicht. Da waren auch Männer. Solche, die ihre Lebendigkeit eingesperrt hatten hinter Erfolg, Pflicht, Kontrolle. Die versuchten stark zu sein, dass sie sich selbst nicht mehr fühlten.....

Und durch all das kroch ein Schatten.

Er hatte keine Form. Aber er war da. Der Schatten des Vergessens, der alles einhüllte. Sarah schluckte. „Was soll ich tun?“, fragte sie leise.

Die Mondin antwortete, ohne zu zögern: „Erinnere dich und du wirst es wissen. Du trägst den Kern in dir. Nicht als Bürde, sondern als Schlüssel. Bald wirst du wissen, wohin er gehört.“


Die Schale

Mondmutter hob ihre Hände. Ganz langsam, fast feierlich, und reichte Sarah ein Gefäss. Eine Schale. Dunkel, aus einem Material, das weder Holz noch Stein war. Kühl in den Händen. Schwer. Auf merkwürdige Weise vertraut. Darin schimmerte klares Wasser, so ruhig, dass es spiegelte. Fast wäre es zu glatt gewesen. in der Mitte trieb eine einzelne Feder. Weiss, fein, vollkommen. Sie drehte sich sachte, ohne ersichtlichen Grund, in langsamen, fast zeremoniellen Kreisen. Als würde sie keine Zeit anzeigen, sondern einen inneren Übergang markieren.

Mondmutter begann zu sprechen, und ihre Stimme klang wie etwas, das sich durch Jahrhunderte gehalten hatte: „Trink. Und du wirst dich wieder erinnern, Liunara. Nicht mit dem Kopf, sondern mit der Seele.“

Sarah zögerte kurz. Dann hob sie die Schale. Der erste Schluck war kühl, weich, fast zärtlich. Der zweite brannte. Tief. Als hätte das Wasser eine Tür in ihrem Innersten aufgestossen. Der dritte löste etwas. Nicht äusserlich, sondern seelisch.

Sie fiel. Nicht in die Tiefe, sondern durch den Schleier des Vergessens. Durch Farben, Düfte, Klänge, die nicht aus diesem Leben stammten und doch zutiefst vertraut waren.

Sarahs Augen waren geöffnet, doch sie sah nicht mehr die Bäume und keinen Wald. Sie sah Frauen, die in einem Kreis standen. Barfuss, bemalt und geschmückt mit Pflanzen und Blüten. Sie leuchteten im Mondschein und sangen alte Gesänge. Ihre Körper bewegten sich in Rhythmen, die kein Takt vorgegeben hatte. Sie sangen Lieder ohne Sprache. Töne, die vibrierten; nicht nur durch Luft, sondern durch Knochen, Erde und Wasser.

In ihrer Mitte lag ein Stein. Schwarz. Rund. Glühend. Er schien zu pulsieren. Nicht als Objekt. Sondern wie etwas Lebendiges. Und sie selbst war da. Nicht als Sarah. Sondern als Liunara. Nicht fremd. Nicht anders. Sondern ganz.

Sie stand im Kreis, die Arme erhoben und die Hände offen.

In ihr das Licht. Nicht wirklich sichtbar, aber spürbar. Wie ein Leuchten, das durch sie selbst hindurchströmte. Dann kam die Stimme wieder. Nicht von aussen. Sondern aus ihr selbst und sie hörte sich sagen: „Ich, Liunara, war einst eine Lichtfrau, und ich habe gehalten, als andere fielen. Ich war die Stimme, als die Worte verloren gingen. Ich habe das Licht getragen und bewahrt, als niemand mehr daran glaubte. Und dann habe ich vergessen, wer ich war und wurde Sarah. Weil es zu viel wurde. Zu schmerzhaft. Zu lang. Doch das Wissen hat mich nie verlassen!“


Tränen liefen über Sarahs Wangen. Nicht aus Schmerz, sondern aus Wiedererkennen.

Dieses Bild, dieser Kreis, diese Hände... sie kannte sie. Nicht aus Büchern. Nicht aus Träumen, sondern aus einer inneren Tiefe, die älter war als ihr jetziges Leben. Sie erkannte, dass sie Teil dieses Bundes gewesen war. Nicht als Führende und auch nicht als Zentrumskraft. Aber unverzichtbar. Eine Frau unter Frauen. Verbunden. Wahrhaftig. Lebendig!

„Warum jetzt?“, flüsterte sie. „Warum bin ich zurück?“ Die Antwort kam sanft. „Weil die Leere zurückkommt. Nicht so wie damals, aber aus derselben Quelle. Und alles, was wir einst gebannt haben, will sich wieder ausbreiten. Es sucht neue Schwächen und Unachtsamkeit. Die Welt hat viel vergessen, aber sie beginnt wieder zu spüren. Viele sind auf dem falschen Pfad: Frauen tun das, was Männer tun sollten und Männer werden weich wie es die Frauen sein sollten. Aber immer mehr Frauen und Männer wachen auf und erkennen diesen Irrtum: Frauen sollen ihre weibliche Kraft wiederfinden und Männer ihre Urkraft. Sie spüren es: Etwas ruft, und du hörst es.“

Sarah sah neue Bilder: Städte voller Licht, jedoch aber leer. Menschen, die einander nicht mehr ansahen. Kinder mit leeren Augen, gebannt in digitale Welten. Frauen, die ihre Namen vergessen hatten, weil niemand sie je bei ihnen genannt hatte. Männer, gefangen in Rollen und durch alles: ein Schatten. Formlos. Lautlos. Aber da. Ein Gefühl, das sich wie Staub auf alles legte. Verlorene Lebendigkeit.

„Was soll ich tun?“

Mondmutter antwortete nicht sofort. Sie wartete, bis die Frage ganz in Sarahs Innerem angekommen war. Dann sprach sie. „Erinnere dich und handle. Der Kern liegt in dir. Er ist kein Ziel. Kein Auftrag. Er ist eine lebendige Möglichkeit. Wenn die Zeit reif ist, wirst du wissen, was zu tun ist.“

Sarah senkte den Blick.

Die Feder in der Schale leuchtete nun nur noch schwach. Das Wasser war still geworden.

Aber sie wusste: Etwas hatte sich bewegt. Nicht sichtbar. Nicht greifbar. Aber unumkehrbar!


Die Tür

Der Morgen kam leise. Kein schriller Neubeginn, kein Licht, das sich grell über alles legte, sondern ein sanftes Erwachen, als würde der Tag selbst wissen, dass etwas Kostbares geschehen war. Sarah öffnete langsam die Augen und streckte sich ausgiebig. Die Luft war kühl, der Raum durchdrungen von einem goldenen Schimmer, der durch das kleine Fenster sickerte wie flüssiger Honig. Neben ihr auf dem Boden lag die Schale. Unversehrt, wie hineingestellt in ein unsichtbares Ritual. Die Feder trieb nicht mehr, sie ruhte. Und daneben lag der Stein. Schwarz, glatt, warm, aber nicht wie von aussen gewärmt, sondern wie von einem inneren Puls durchströmt. Sarah setzte sich auf. Ihr Körper fühlte sich erstaunlich leicht und geerdet an, als wäre in der Nacht etwas in ihr sortiert worden. Nicht mit dem Verstand, sondern tiefer. Etwas war neu. Anders, und es fühlte sich sehr gut an!

Die Hütte war still. Kein Laut von draussen. Kein Vogelruf. Kein Wind. Alles wirkte, als würde der Wald selbst lauschen. Sie blieb noch einen Moment sitzen, dann stand sie auf, packte ihre wenigen Dinge ein. Die Bewegungen waren klar, fast andächtig. Es fühlte sich nicht wie ein Abschied an, sondern eher wie ein leiser Schritt über eine unsichtbare Schwelle. Als sie die Hütte verliess, war der Wald hell und offen. Keine Spur der Mondmutter. Kein Zeichen und auch keine Stimme. Doch sie wusste, dass sie nicht alleine war. Sie fühle es klar.


Der Weg zurück in die Stadt war der gleiche wie vorher. Und doch war nichts mehr gleich für sie. Die Geräusche der Strasse, die Menschen, das Hupen, die Gesichter... alles schien ihr fremd und doch vertraut. Die Welt hatte sich scheinbar auf den ersten Blick nicht verändert, aber sie hatte es! Es war, als trüge sie eine zweite Haut aus Wahrnehmung. Die Dinge hatten Tiefe bekommen. Spiegelungen, die andere nicht sahen. Sarah bemerkte Bewegungen in Schaufenstern, die nicht vom Wind stammten und sah Schatten, die zu lang blieben, wo sie längst hätten verschwinden sollen. Und in den Gesprächen um sie herum lag manchmal ein Echo, ein Nachklang, der zwischen den Worten vibrierte. Kaum wahrnehmbar aber für sie blieb es nicht verborgen. Sarah wusste nicht, wonach sie suchte, aber sie spürte, dass sie gefunden werden würde. Es geschah in einer Seitengasse. Zwischen einem geschlossenen Blumenladen und einer bemalten Mauer, die vom Regen glänzte. Eine Tür, grau, aus altem Holz, scheinbar bedeutungslos. Doch auf ihrer Fläche war ein Zeichen eingeritzt, wie mit einer Klinge hineingeschrieben: ein Kreis, darin drei Punkte. Sie trat näher. Ihr Herz schlug schneller, aber nicht aus Angst. Die Hand, die sich hob, zitterte nicht. Als ihre Finger das Holz berührten, öffnete sich die Tür lautlos. Kein Ruck, kein Geräusch, nur ein Einlass.

Drinnen war es dunkel. Dann begannen die Kerzen zu leuchten. Viele, in Nischen und auf dem Boden verteilt. Der Raum war gross, rund, von Wurzeln durchzogen, als wäre er gewachsen und nicht gebaut. Menschen standen da. Männer, Frauen, alt, jung. Niemand sprach, doch alle blickten sie an. Kein Starren, kein Mustern. Nur ein Erkennen, das sich wie ein Strom durch ihre Körper zog. Eine Frau trat aus dem Halbschatten. Ihre Haut war wie dunkler Bernstein, von Linien durchzogen, die Geschichten trugen. Ihre Augen golden, tief und lebendig.

„Da bist du ja, Liunara“, sagte sie, als hätte sie Sarah nie anders genannt. „Wir haben auf dich gewartet.“ Sarah nickte. Keine Worte. Keine Fragen. Nur ein inneres Verstehen.

Dann trat ein Kind hervor. Barfuss. Es trug etwas in den Händen: ein kleines Säckchen aus weichem Stoff und eine Feder. Sie war weiss wie frisch gefallener Schnee und schwebte fast. Das Kind legte beides in Sarahs Hände. Die Frau mit den goldenen Augen trat näher. „Wenn sich das Salz in deinen Händen aufgelöst hat, öffnet sich das Tor. Kein Tor aus Holz oder Stein, sondern ein Energiefeld. Es wird dich rufen. Du wirst es spüren. Geh nicht vorher und auch nicht später. Sondern genau dann.“

Sarah schloss die Finger um das Säckchen und die Feder. Sie war warm. Anders als die erste. Als würde sie nicht erinnern, sondern führen. Und in ihrem Inneren begann etwas sich zu regen. Nicht laut. Nicht aufdringlich. Aber bestimmt.


Die Entscheidung

Es geschah nicht an einem heiligen Ort. Nicht im Wald. Nicht in der Hütte. Auch nicht bei Kerzenlicht, sondern es geschah mitten in der Stadt, an einem ganz gewöhnlichen Tag. Sarah stand an einer Kreuzung. Der Lärm der Stadt war vertraut, fast gleichgültig geworden. Menschen strömten an ihr vorbei. Jeder in seiner eigenen Welt. Autos hupten. Ein Lieferwagen stoppte abrupt, und irgendwo schrie ein Kind nach einem Eis. Und dann geschah es. Kein Blitz, kein Ruf, kein Erdbeben. Es war einfach plötzlich da: Stille. Nicht die Abwesenheit von Geräuschen, sondern das Innehalten von Zeit. Die Menschen um sie herum standen plötzlich still. Ein Mann blieb mit erhobener Kaffeetasse eingefroren, eine Frau hielt ihr Handy in der Hand, das Display noch leuchtend. Ein kleiner Hund blickte hoch und erstarrte, ein vorbeirauschender Tramzug stoppte lautlos, mitten auf den Schienen. Alles stand. Nur Sarah bewegte sich noch.

Sie spürte das Salz in ihrer Tasche, die Feder, den schwarzen Stein. Es war, als hätte der Moment selbst auf sie gewartet. Dann kam er; der Schatten. Nicht als Gestalt. Nicht als Kreatur, sondern als Präsenz. Eine dunkle Schwere, die sich in die Luft legte. Wie ein Gedanke, der alles durchdrang. Kein Geräusch begleitete ihn. Kein Wind kündigte ihn an. Er war einfach da. Breit. Formlos. Lebendig. Die Wärme wich aus der Umgebung und Sarah stand aufrecht, spürte den leichten Druck im Brustkorb, der nicht Angst war, sondern Wachheit. Der Schatten sprach nicht in Worten. Und doch war es Sprache. „Gib uns den Kern und du wirst Frieden haben. Wir waren vor euch. Wir sind das, was ihr verdrängt habt.“ Es war kein Angebot. Es war eine alte, uralte Wahrheit. Sarah schloss die Augen einen Moment lang, dann hob sie den Kopf. Ihre Stimme war ruhig, fast zärtlich und sie sprach als Liunara: „Ich sehe und erkenne euch. Nicht als Feind, sondern als das, was niemand halten wollte. Ihr seid die verlorene Wunde, die nie heilte. Die Leere, die wir alle mit Lärm und Aktivitäten füllten.“ Der Schatten pulsierte heftig, und die Umgebung wurde dunkler, als hätte jemand das Licht zurückgezogen.

Sarah griff in ihre Tasche. Ihre Finger berührten das Salz. Es brannte leicht, aber nicht unangenehm. Sie streute es langsam, fast rituell, in die Luft. Nicht als Geste gegen etwas, sondern als Antwort. Das Salz löste sich auf, ohne den Boden zu berühren. Es blieb in der Luft stehen und begann zu leuchten. Kein grelles Licht, sondern ein klares, stilles Strahlen. Die Feder in ihrer Hand begann sich zu erwärmen und zu vibrieren. Und dann zu leuchten. Aus sich heraus, wie etwas, das lange geschlafen hatte. Sarah hob sie hoch. Das Licht floss nicht aus ihr heraus, sondern durch sie hindurch. Ihr Körper war das Gefäss und nicht der Ursprung. Dann öffnete sich das energetische Tor. Es war kein sichtbarer Eingang. Kein Bogen, kein Portal. Aber es war spürbar. Als würde sich der Raum weiten, als würden sich zwei Schichten der Realität kurz voneinander lösen. Sie spürte klar und deutlich das Energiefeld. Dann strich ein Windzug durch sie hindurch, aber nicht von aussen, sondern von innen. Der Schatten schien zurückzuweichen. Nicht aus Schwäche, sondern aus Anerkennung. „Ich lasse euch nicht allein“, sagte Liunara. „Aber ich lasse euch nicht regieren.“ Dann nahm sie den Stein in die Hand. Er war jetzt offen, und ein feiner Spalt zeigte sich auf seiner Oberfläche. Daraus stieg ein warmes, weiches Licht. Keine Strahlen, sondern Erinnerung. Sie hob ihn empor, hielt ihn dem Himmel hin. Nicht als machtvolle Geste, sondern als Zeichen. Der Lichtstrom stieg auf. Langsam, klar und ohne Hast. Als er die Höhe ihrer Stirn erreichte, löste sich etwas. In ihr. Um sie. Durch sie. Und dann war es plötzlich vorbei!

Die Zeit begann wieder zu fliessen. Die Stadt atmete. Ein Vogel flog auf, ein Mann nippte an seinem Kaffee, als hätte er nicht bemerkt, dass etwas geschehen war. Die Geräusche kehrten zurück, der Verkehr rollte weiter, ein Kind lachte. Und doch war alles anders!


Die Rückkehr

Sarah kehrte nicht triumphierend zurück. Es gab keinen Applaus, keine Einweihung, keine Worte, die das hätten fassen können, was geschehen war. Und doch war es eine ganz besondere Rückkehr. Sie nahm denselben Weg, den sie vor Tagen gegangen war, durch dieselben Strassen. Vorbei an denselben Häusern. Nur dass sie die Welt nun anders sah. Nicht heller, nicht bunter....aber durchlässiger. In den Augen der Menschen entdeckte sie plötzlich kleine Öffnungen. Feine Risse im Alltag, durch die etwas Echtes schimmerte. Alte Menschen sassen auf Parkbänken und es kam Sarah vor, als würden sie auf etwas hören, das andere längst übertönt hatten. Sie sah Kinder, die wieder fröhlich und barfuss über einen Platz rannten, obwohl der Boden kalt war. Und sie selbst, nicht mehr getrennt. Nicht mehr suchend. Nur da. Klar. Wach.

Sie fuhr hinaus, weg vom Zentrum, zurück zum Wald. Die Hütte stand noch genauso da wie zuvor, unscheinbar, klein, verwittert. Und doch war sie mehr als ein Ort. Sarah trat ein, stellte ihre Tasche ab, zog die Schuhe aus, legte die Feder auf den Tisch, das Salz daneben und setzte sich. Kein Gedanke drängte sich auf. Kein Bild. Nur dieses stille, kraftvolle Gefühl, angekommen zu sein! Nicht irgendwo, sondern in sich selbst. Die Sonne war bereits untergegangen, als sie das Notizbuch öffnete, das sie tagelang nicht angerührt hatte. Die Seiten waren leer. Bis auf die letzte. Dort stand ein Satz. Nicht in fremder Handschrift, sondern in ihrer eigenen, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, ihn geschrieben zu haben: "Du hast dich erinnert. Jetzt vergiss dich nie mehr".

Sarah schloss das Buch, legte es neben sich und blickte hinaus zum Fenster und trat hinaus. Der Himmel war klar. Der Mond stand tief über dem Horizont. Gross, silbern, leuchtend..... Und plötzlich wusste sie es: Er war nicht nur ein Himmelskörper. Er war ihr Spiegel. Ihre Erinnerung. Ihr Wegweiser. Und sie... sie war nicht mehr nur Sarah sondern auch Liunara. Trägerin des Lichts. Keine Auserwählte, aber eine, die sich entschieden hatte, bewusst positives zu bewirken, und in dieser Entscheidung lag der Anfang von allem!

Sarah im Mondlicht
Sarah im Mondlicht

Diese Geschichte ist kein Märchen im klassischen Sinn, sondern visionäre Fiktion (eine literarische Form, die innere Wandlung, spirituelle Tiefe und gesellschaftlichen Wandel miteinander verbindet), die an einen Ort führt, den viele kennen, aber nur selten betreten: einen stillen, inneren Raum jenseits von Alltag, Rollen und Erwartungen. Diese Kurzgeschichte zeigt, dass es in jedem Menschen etwas gibt, das nicht aus Wissen oder Leistung entsteht, sondern aus Tiefe. Die Mondmutter ist keine Figur aus einer anderen Welt. Sie steht für das, was in uns lebt, wenn wir still genug werden. Für die Kraft, die nicht führt, sondern begleitet. Der Schatten, dem Sarah begegnet, ist kein Feind. Er steht für alles, was wir nicht leben; für das, was unterdrückt, angepasst, vergessen wurde. Und so wird klar: Es geht nicht um Heldentum oder Erlösung, sondern um eine Entscheidung: Authentisch zu sein und das eigene Licht nicht mehr zu verstecken. Manchmal reicht schon ein Moment der Klarheit, um eine neue Richtung zu wählen. Mit Mondmutter möchte ich dir, liebe Leserin, lieber Leser, erklären, wieviel Kraft in unserer Wahrnehmung liegt. Wieviel Wahrheit in vermeintlich zufälligen Zeichen steckt, die wir im Alltag oft übersehen. Nicht nach Kontrolle sollten wir streben, sondern nach Präsenz. Nach dem stillen Wissen, das in uns lebt, auch wenn es manchmal verborgen scheint. Wir alle tragen einen solchen Kern in uns. Keine besondere Gabe, sondern etwas Echtes, das in jedem Menschen lebt. Sie zeigt sich dann, wenn wir aufhören nur zu funktionieren und beginnen, wirklich authentisch zu sein. Wir sollten unserem inneren Gefühl trauen. Unserem Bauchgefühl und unserem Herz. Genau davon erzählt diese Geschichte.


Herzlich: 🌙Luna

 
 
 

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